Man kann lange suchen, aber nicht lange finden. Über die Intuition

Um zu verstehen, wie das Verstehen funktioniert, fand ich immer des Studium der Integration von technischen Implantate in den menschlichen Organismus aussagefähig: Beispiel Cochlea- Implantate. Das ist ein seit etwa einem Jahrzehnt vor allem bei jüngeren tauben Klienten eingesetztes künstliches Hör- Organ, dessen Elektroden mit Hörnerven verbunden werden. Zu Beginn wird einfach Krach erzeugt- schlagende, trommelartige, vor allem aber sinnlose Geräusche. Mit der Zeit - vielleicht über Monate hin- setzt ein Top- down- Prozess bis in die Hirnstruktur hinein ein; d.h. vom Sinn her, vom Verstehen. Das dynamische Hirn wird von diesem Verlangen nach Sinn so verändert, dass aus dem zunächst sinnlosen Krach verständliche Signale werden, die Sinn machen, und der Welt eine weitere sensorische Struktur geben, um sie für das Kind erfahrbar zu machen. Das Beispiel zeigt, wie sehr wir selbst strukturell, bis ins Physische hinein, durch das Verstehen gebildet und geprägt sind- und wie sehr wir strukturell, sensorisch, intellektuell verarbeitend und Kontext bildend, danach verlangen, die Welt mit unserem Verstehen zu durchdringen und damit zu erschliessen. Es ist der Geist selbst, der strukturell bildet, und er verlangt nach Verstehen, um gestaltend- plastisch wirken zu können.

Dieses strukturell bildende Verlangen erschließt uns allen, all den Kaspar Hausers der Welt, eben diese. Auch für Hauser, dem Kellerkind, sind Fenster zunächst nur flimmernde, zweidimensionale Bilder gewesen. Erst durch das Verständnis der Dreidimensionalität erschloß sich ihm das Nacheinander in räumlicher Wahrnehmung- und damit die abgegrenzten Objekte darin.

Als Kind haben wir selbst das tiefe Glück erlebt, dass Zusammenhänge durch uns aktiv erschlossen wurden. Es gibt kein größeres Glück, weil wir uns als Mensch im Verstehen selbst- als Person- erschlossen haben. Die Person bildete sich an der Spur unseres Verstehens. Der Wille, die Welt zu erschließen und uns daran als Person zu bilden, wird freilich schwächer und muss im Erwachsenenalter neu ergriffen werden, wenn man danach verlangt. Es liegt im Ermessen des Einzelnen, ob er damit abschließt oder das Verlangen immer neu anfacht und tätig bleibt. Denn das Verstehen- der Geist- Wille- kann seiner selbst bewusst werden. In dem Maße, in dem das geschieht, tritt die reine Aktivität- die Unverborgenheit- in die Aufmerksamkeit hinein. Das ist ein weihnachtliches Geschehen.

Was uns vom kindlichen Ergreifen- der- Welt geblieben ist, ist die Intuition der plötzlichen Einsicht in einen Zusammenhang. Man hat diese Einsicht nur einmal. Das Verstehen- so Georg Kühlewind- „geschieht blitzschnell, und es kann nicht wiederholt werden, das heißt, wir können nicht dasselbe zweimal verstehen“*- außer in einem neuen Aspekt oder nach vollkommenem Vergessen des einmal Verstandenen. Das Verstehen selbst ist - auch wenn dem ein umfangreiches Nachdenken und innerliches Bewegen- vielleicht auch Experimente und Versuchsanordnungen- voran gegangen sein mögen, blitzartig, ein intuitives Ergreifen und Begreifen. In diesem Augenblick ist das Ich „ganz in der Welt“- es ergreift und begreift buchstäblich: „Man kann lange suchen, aber nicht lange finden.“* Dieses Finden ist auch ein Selbst- Ergreifen, es ist der Augenblick vollkommenen Ausgegossenseins, vollkommener Hingabe und Einheit mit dem Objekt des Verstehens.

Die Intuition ist so willenhaft und selbstvergessen, dass sie selbst meist nicht bewusst wird, sehr wohl aber empfunden werden kann: Als Befriedigung, eine Lösung gefunden zu haben. Man kann das Verstehen auch nicht analysieren, wie Kühlewind anmerkt, „da es jeglichem Analysieren zugrunde liegt, auch jeglichem Denken. Das eigentliche, reinste Denken ist das Verstehen.“*

Jede wirkliche geistige Tätigkeit sucht sich in dieser höchsten Aktivität selbst. Den Blitz des Willens in eine gewisse Kontinuität zu bringen bedeutet die Selbstgewahrwerdung des denkenden Geistes. In dem Maß, in dem das möglich wird, wird das Weihnachtsgeschehen über das Symbolhafte hinaus zur inneren Gewissheit.

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*Georg Kühlewind, Der sanfte Wille, Stuttgart 2006/4, S. 23