Der reine Wille

Auch die anthroposophische Meditation beginnt für den, der sich tatsächlich nicht nur dafür interessiert, sondern sich auch darum bemüht, mit bestimmten Momenten der Stille, die denkbar schwer in unsere Zeit zu passen scheinen, die nach Attraktionen hechelt und aus dem unstillbaren Verlangen nach immer Mehr und immer Neuem eine konsumistische Ideologie und entsprechende Selbstbilder gebastelt hat. Das ständige Erfüllen - z.B. als „Selbstverwirklichung“, „Vollendung“, „Erleuchtung“- durchdringt aber durchaus auch viele sich spirituell gebende Sehnsüchte, die damit demselben Muster auf angeblich höherer Ebene folgen. Ein „Nichts“ anzustreben, scheint in sich ebenso widersprüchlich zu sein wie die Suche nach Nicht- Erfüllung. Selbst die Muster angeblicher Dialoge in Internet- Kontakten folgen den Mustern von Prägen und Geprägtwerden. Am seltsamsten in all diesen Zen- Rätseln scheint die anthroposophisch- meditative Praxis eines Denkens in erhöhter Aufmerksamkeit, aber ohne Inhalt, ohne Vorstellung- ohne „Gefülltsein“ des Denkens, also frei von jeglichen Vorstellungsbildern, Sehnsüchten und Ego- Projektionen. Es geht in dieser ersten Begegnung mit dem Nichts ganz offensichtlich um eine Kraftquelle, die der Stille entspringt.

Einen eigenen Zugang zu dieser Kraftquelle führt Karsten Massei* aus, bei dem es um (S. 161ff) um das Vergessen und Erinnern in Bezug auf sinnliche Naturobjekte geht. Der erste Schritt beim aufmerksamen, gewahrwerdenden Spaziergang besteht für ihn darin, „alle Sinneserfahrungen, die man über ein bestimmtes Wesen gesammelt hat, aktiv fallenzulassen“. Nach einer eingehenden, verdichteten Sinnesbeobachtung, „vergisst“ man systematisch alle inneren Bilder, alles Wissen, alle Kenntnisse und Beobachtungen über das betreffende Objekt. Wenn es gelingt, behält man seelisch nur die Fokussierung, aber: „Es entsteht in der Seele eine Leere“- eine Leere, die aus reinem Willen, aus Kraft besteht und die man „leicht übersieht“. In der Stille lebt man ganz in dem „Nachklang“, den das Objekt in der Seele hinterläßt- eine Art Erinnerung ohne jede seelische oder intellektuelle Inhaltlichkeit. Das womöglich entstehende „Nachbild“ kann verschiedenen Charakter haben. Es hat womöglich den Charakter einer bestimmten Dynamik oder einer Form, mit der man sich in geradezu freundschaftlicher, dialogischer Art bekannt macht. Das wird nicht mit einem Mal gelingen. „Für den, der auf dieses Nachbild der Seele aufmerksam wird, besteht aber kein Zweifel, dass es sich auf das Wesen bezieht, das man ursprünglich wahrgenommen hat“. Der eigene Wille muss - trotz der bestehenden Fokussierung- ebenso schweigen wie die Vorstellungskraft. Tatsächlich entspringt die Dynamik aus einer sehr viel tieferen seelischen Schicht als die konsumistische, sich selbst ständig erfüllende Bewusstseinsebene. Es ist - und das ist deutlich bemerkbar- eine innere Bewegung, die nur durch Übung erreichbar ist, eine reine Kraft, in der man berührt wird von dem Anderen; man bringt es nicht hervor.

Dennoch, möchte man ergänzend zu Massei bemerken, ruft dieses reine Berührt- und Bewegtwerden zugleich weitere Anregungen hervor, die tiefe, elementare Empfindungen des Glücks wecken. Man kann die Erfahrung direkt nicht wiederholen, kennt aber das Potential der eigenen Berührbarkeit; von nun an läuft man anders durch die Welt- selbst durch die Welt des eigenen Denkens. Von nun an mag es manchmal, ohne willentliche Vorbereitung, anklopfen, und man bemerkt dieses Anklopfen tatsächlich, an dem man lebenslang, gehetzt von der eigenen Sucht nach Erfüllung und nach Vorstellungen, vorbei gegangen ist.

Wie man es erlebt, mag höchst individuell geprägt sein. Auch was und unter welchen Umständen es anklopft. Das eigene Ich erlebt sich wie ein reines, kraftvolles Equilibrium ohne den sonst üblichen inneren Monolog- ein auf Empfang gestimmtes inneres Gleichgewicht, das sich selbst auspendelt, aber sensitiv ist. Daran ist nichts Besonderes, nichts Mystisches und schon gar nicht Visionäres. Es ist ein Nichts, das sich in der Waage hält, ein reiner Wille.

Der, der die inneren Bewegungen weiter verfolgt, wird das Strömen in den Chakren bemerken, die sich in den oberen Partien formieren zu einem beweglichen Ganzen - ein, wie Rudolf Steiner in den Karma- Vorträgen ausführt**, metallisches Gefühl- ein sensorischer Apparat ohne direkten Bezug zu den Sinnesorganen. Das metallisch- flüssige Empfinden strömt vom zentralen Herzorgan in die Mitte der Hände aus. Diese innere Beweglichkeit und Empfindlichkeit steht in Korrespondenz zu den strömenden Feldern der sinnlich wahrgenommenen Objekte- darin besteht das gegenseitige Berührtwerden. Man bewegt sich in einem gemeinsamen strömenden Feld. So entsteht ein Sensorium für die Dynamik der umgebenden Natur- etwas, was nie wiederholbar ist, sondern der immer neuen merkurialen Aktivität entspringt, die so natürlich und gesundend wie nur denkbar erscheint. Zugleich ist der Logos- Charakter wahrnehmbar, denn man bewegt sich auf einer Ebene, die ebenso der inneren Mitte, dem eigenen Kraftzentrum entspringt wie das Gewissen und das klare Denken. Die Erfahrung hat stets moralischen Charakter und kann nur sichtbar werden durch die Reinigung von allen suggestiven, treibenden und ablenkenden Elementen. Man weiß, dass man *hier* in existentieller Hinsicht „zu Hause“ ist.

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*Karsten Massei, Botschaften der Elementarwesen, Basel 2013
** Dornach, 9. Mai 1924