Teleios

Michael Eggert:

Die „volle Wirklichkeit des Menschen und der Welt“ (1) ist nach der Auffassung Georg Kühlewinds - in seiner Interpretation des Neuen Testamentes - nicht zu verstehen als Gegebenes, ganz im Gegenteil: Schritte auf dem Weg zur „Vollkommenheit“ (teleitotes) können nur in der Suche nach eben der vollen Wirklichkeit gegangen werden, die durch „Weiterschöpfung an der Welt“ und somit durch den „weiterschöpfenden Menschen“ realisiert werden kann. Es ist also Aktivität notwendig, um z.B. im Ansatz über Gedanken im Sinne von Definitionen, Ideologien, Standpunkten, Meinungen hinaus zu kommen.

Der Eingeweihte, der „Vollkommene“, teleios, ist ein Mensch, in dem sich die ursprüngliche geistige Natur der Arche und durch sie der Charis und der Aletheia auf Erden darleben kann. Die Arche- das „Archaische“, ist nichts, was der Mensch aus sich heraus schaffen könnte - es ist der innere Kern, der Ursprung und Anfang, ein absolutes Sein, aus dem der Mensch zum Teil heraus gefallen ist- aber auch ein Grund, in dem „die Kraft des Wachstums verborgen“ ist. Dieser Wesenskern kann sich verwirklichen, wenn aus den Fixierungen des Denkens, den Zwängen der gewordenen Person und der Rückwärtsgewandtheit des menschlichen Bewusstseins das „Überschüssige“ in Charis (Gnade) und Aletheia (Überwindung der Verborgenheit) entfaltet wird.

Kühlewind setzt dabei Charis und Aletheia mit Imagination und Inspiration gleich - der vollkommene Mensch in seiner Selbstrealisation (Intuition) entspricht der Arche - etwas, was nicht zerfallen und verloren gehen kann und daher über das irdische Leben hinaus weist.

In diesem Sinne sind Arche, Charis und Aletheia die „Seinsformen der Ichwesen (..)“; „Diese Seinsformen beinhalten ständiges Wachsen, Zunehmen und in diesem Sinne Un- Fertigkeit.

Letzteres aber - die Schöpfung aus dem Nichts, die andauernde Un- Fertigkeit- muss erst einmal ausgehalten werden. Der sichere Hafen der Selbstbilder und Definitionen muss verlassen werden- das, worauf wir uns berufen, als was wir uns und die Welt zunächst verstehen. Als schaffendes geistiges Wesen beruhen wir auf nichts, sondern erleben uns in reiner Aktivität (Geistselbst). Die eigene Biografie liegt in dieser höchsten und gleichwohl hingebenden Aktivität vor uns wie ein Bilderbuch, durch das wir blättern, das wir anschauen und in mancher Hinsicht auch befremdlich finden können.

In der Meditation erleben wir „Hingabe, die empfangende Aufmerksamkeit, den umgekehrten, aufnehmenden Willen“- eine reine Dialog- Bereitschaft. Die fest geformten, ewig verteidigten Bollwerke, das Selbstgefühl des eigenen Popanz fallen wie Blätter; zurück bleibt das, was „Platz- Bieten“ kann für den Anderen und das Andere.

Teleios, die Vollkommenheit, ist eine Form des nüchternen Sich- Verschenkens.


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1) Georg Kühlewind, Die Erneuerung des Heiligen Geistes, Stuttgart 1992, S. 70ff