Der günstige Wind

Worte schützen das Denken vor dem Verfliessen“, schreibt Georg Kühlewind („Gesunden im Licht“, S. 88), Worte konstituieren aber auch die Persönlichkeit, da immer noch gilt, dass die Worte, die wir über ein Thema bilden, dieses erst zu unserem Eigentum machen. Man merkt das natürlich, wenn man jungen Schülern das sachliche Verfassen von Aufsätzen zum Thema Naturkunde nahebringt. Funktionieren kann das am Anfang nur, wenn die zu behandelnde Thematik begeisternd und mit nachvollziehbaren Bezügen aufzieht. In der dritten Klasse verhandelt man noch die Anzahl der Sätze. In der vierten kommt es darauf nicht mehr an. Zu Recht haben die Schüler das Gefühl, dass sie sich eine Thematik aneignen, wenn sie treffende Sätze mit eigenen Formulierungen dazu finden. Wenn es klappt, ist es eine begeisternde Entdeckung: „Wenn ich schreibe“, sagte mir eine Schülerin emphatisch, „dann sehe ich, was ich schaffe. Das macht mich glücklich.“ Das optimistische Selbstgefühl, sich die Welt sprachlich zu eigen machen zu können, ist in der Tat eine Kernkompetenz- vor allem, wenn es auch noch gelingt, dies sprachlich treffend in Vorträge umsetzen zu können. Ich als Lehrer fühle mich vor allem dann beschwingt, wenn dieser Funke bei Migranten überspringt. Es macht dann auch nichts, wenn es an der einen oder anderen Stelle grammatisch noch hakt. 

Es ist ein weiter Weg bis dahin, wenn man auf das Kleinkind schaut, das sich in einen Sprachkörper integriert- keinesfalls nur nachahmend. Denn mit den Begriffen für die Objekte der Wahrnehmung erwirbt das kleine Kind die grundlegende, nicht nur an den wahrnehmbaren Phänomenen klebende Grundbedeutung eines Objekts. Sonst könnte es diesen Begriff nicht auf zahllose mögliche sinnliche Varianten übertragen. Auch ein Baumstamm kann ein „Stuhl“ sein. Das Kind erlebt noch die grundlegende Sprachintention mit- etwas, was dem Erwachsenen gar nicht mehr bewusst ist, da er die Phänomene gern mit einer einzigen bequemen Vorstellung, einem Bild, verknüpft. Beim Erwachsenen gerinnen die Phänomene zu einem bildhaften Symbol. Noch schwerer sind Beziehungen zu erfassen, die sich nicht an konkreten Sachverhalten festmachen, sondern variable und relative Bedeutungen haben wie „nach“, „neben“, „dahinter“ und „und“. „Und“ kann Dinge verknüpfen oder gegeneinander stellen, sie aufreihen oder trennen. Solche Begriffe sind vom Kontext abhängig, man kann sie daher nicht erklären- die möglichen Varianten denkbarer Verknüpfungen sind endlos. Was uns solche Schwierigkeiten zu erklären bereiten kann, beherrscht ein Fünfjähriger ganz selbstverständlich, eigenständig und häufig sogar sprachschöpferisch. 

Im Idealfall finden wir nicht nur zur Sprache und durch die Sprache zur Innensicht der Wirklichkeit, sondern in ihr auch uns selbst. Ich bin heute über eine Formulierung in einer Buchkritik von Daniel Haas („Auf der Fährte des Helden, FAZ, 27.11.2010, Seite L 3) gestolpert. Darin ist davon die Rede, dass die Protagonistin in einem stummen Partner „jenen Mann erkennen“ wird, „der ihre Sprache spricht, jenes besondere Idiom, das sich aus den feinsten Partikeln unseres Innersten bildet und das sich im entscheidenden Moment lautlos ausdrückt.“ Es ist nun einmal so, dass wir selten die gleiche Sprache sprechen, zumindest wenn es um das Lautlose geht. In manchen Beziehungen braucht es endlose Anläufe, um zu einer grundlegenden Verständigung zu kommen. Und manchmal - selten- geschieht es uns, dass es fast ohne Laut zwischen zwei Menschen funktioniert. Es bedarf keiner umständlichen Erklärungen. Das Glück, im gleichen Duktus zu schwingen, muss keine romantische Gelegenheit sein; man erlebt es auch in nüchternen Arbeitsbeziehungen, über alle äußeren Grenzen und Beschränkungen hinweg. Man sollte immer etwas daraus machen, so wie Segler den günstigen Wind nutzen.